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Mehr als "heikle" Esser
Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder (ARFID)
ARFID wird als vermeidend-restriktive Essstörung übersetzt und wird auch seit 2022 im ICD11* Katalog als anerkannte Diagnose geführt. ARFID kann jedes Alter betreffen und ist gekennzeichnet durch eine zu geringe Nahrungsmenge und/oder eine zu geringe Nahrungsvielfalt im Vergleich zu altersadäquaten Angaben und kann zu körperlichen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen führen. ARFID beinhaltet im Vergleich zu Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa kein verzerrtes Körperbild und beruht nicht auf Figur- und/oder Gewichtsgründen.
* International Classification of Diseases 11th Revision
Prävalenz
Es wird geschätzt, dass 5–14 % der Kinder mit Essstörungen von ARFID betroffen sein könnten. Die Essstörung besteht häufig bei Kindern und Jugendlichen mit:
- Angststörungen (ca. 75 %)
- Erkrankungen aus dem Autismusspektrum (ca. 20 %)
- Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
- affektiven Störungen
- komplexeren Krankengeschichten oder Operationen sowie Allergien
ARFID kann jedoch genauso Kinder und Jugendliche ohne psychische und physische Komorbiditäten betreffen. Im Vergleich zu anderen Essstörungen sind ARFID-Patient:innen mit größerer Wahrscheinlichkeit jünger und männlich.
Abzugrenzen ist auch ein phasenweises wählerisches Essverhalten, welches gehäuft bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren auftreten kann.
Kernerscheinungsformen
Die vermeidend-restriktive Essstörung (ARFID) zeichnet sich durch mehrere Kernmerkmale aus, die das Essverhalten der Betroffenen erheblich beeinflussen können. Diese Kernmerkmale können einzeln oder auch gleichzeitig auftreten.
- Ein zentrales Merkmal ist die sensorische Empfindlichkeit. Betroffene lehnen Lebensmittel aufgrund ihres Aussehens, Geschmacks, Geruchs, ihrer Textur, Temperatur oder Konsistenz ab. Diese sensorische Empfindlichkeit kann so stark ausgeprägt sein, dass nur sehr ausgewählte Lebensmittel akzeptiert werden. Eventuell sind Betroffene auch taktil, olfaktorisch, thermisch etc. sensibel. Dies führt zu einer erheblichen Einschränkung der Nahrungsmittel in Bezug auf Menge und Vielfalt, was die Ernährung der Betroffenen stark beeinträchtigt.
- Ein weiteres charakteristisches Merkmal ist das verminderte Interesse am Essen oder ein reduzierter Hunger. Für viele Betroffene ist das Essen kein Genuss, sondern eine lästige Pflicht. Sie können längere Zeit ohne Nahrung auskommen und müssen oft daran erinnert werden, zu essen. Zusätzlich empfinden manche Betroffene einen körperlichen Ekel vor bestimmten Lebensmitteln. Dies führt zu einer unzureichenden Nahrungsaufnahme und kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben.
- Darüber hinaus leiden viele Betroffene unter essensbezogenen Ängsten. Diese Ängste äußern sich in der Furcht vor Aspiration, allergischen Reaktionen, Verunreinigung, postprandialen Beschwerden, Würgen, Erbrechen, Ersticken und Schlucken. Diese Ängste führen dazu, dass die Nahrungsaufnahme für die Betroffenen mit großem Stress verbunden ist.
Einschränkung der Nahrungsmittel: Menge und/oder Vielfalt
Diese Kernmerkmale resultieren in einer erheblichen Einschränkung der aufgenommenen Menge und/oder Vielfalt der Nahrungsmittel, was weitreichende Konsequenzen für die Nährstoff- und Energieaufnahme der betroffenen Kinder und Jugendlichen haben kann.
Mögliche somatische Folgen: | Mögliche psychosoziale Folgen: |
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Picky Eating vs. ARFID
Es ist wichtig, zwischen phasenweisem wählerischem Essverhalten und ARFID zu unterscheiden.
Während Picky Eating häufig bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren auftritt und meist vorübergehend ist, handelt es ich bei ARFID um eine ernst zu nehmende Essstörung mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen. Die folgende Gegenüberstellung verdeutlicht die Unterschiede:
Picky Eating | ARFID |
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Leichte bis mittelschwere Essstörung, die keine oder mittelschwere Veränderungen des Wachstumsverlaufs verursacht | Schwere Essstörung, die zu erheblichen Veränderungen im Wachstumsverlauf und/oder zu einem verzögerten Einsetzen von Meilensteinen und Entwicklung führen kann |
Der Einsatz von Trinknahrungen beschränkt sich aufgrund von möglichen Mikronährstoffdefiziten auf temporäre Ernährungslücken | Die Verwendung von Trink- oder Sondennahrung wird bei unzureichender Nahrungsaufnahme und einem Makronährstoffdefizit empfohlen |
Vermindertes Interesse und geringer Appetit ausschließlich auf die gemiedenen Lebensmittel | Reduziertes Hungergefühl und geringeres Interesse am Essen und an Nahrungsmitteln |
Geringe Auswirkungen auf die psychosoziale Funktionsfähigkeit | Negative Auswirkungen auf die psychosoziale Funktion |
Zeigt keine Ängste und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Essen | Zeigt Angst, Unruhe oder Ekel beim Essen |
Keine Angst vor Verschlucken, Ersticken, Erbrechen, Völlegefühl oder Magenschmerzen | Berichtet über Angst vor Verschlucken, Ersticken, Erbrechen, Völlegefühl oder Magenschmerzen |
Diagnosestellung
Für eine Diagnosestellung müssen vier Kriterien nach DSM5** erfüllt werden:
** Diagnostisches und Statistisches Handbuch Psychischer Störungen
WICHTIG: Dokumentieren Sie bei Verdacht auf ARFID den Perzentilenverlauf Ihrer Patient:innen, um eine Gedeihstörung frühzeitig zu diagnostizieren.
Eine Definition für eine Gedeihstörung ist das Kreuzen der Gewichts- oder Wachstumsperzentile um mehr als zwei Hauptperzentilen oder Länge und/oder Gewicht unterhalb der 3. Perzentile.
Nutzen Sie unseren Perzentilenrechner online, um schnell den aktuellen Status und Verlauf der Gewichts- und Wachstumsentwicklung zu ermitteln. Durch die automatische Berechnung des Längen-Soll-Gewichts können Sie zudem den Ernährungszustand Ihrer kleinen Patient:innen beurteilen.
Beachten Sie: Auch normal- und übergewichtige Kinder können ein restriktives Essverhalten haben und durch die Einschränkung eine Mangelernährung aufweisen.
Therapie
Die Vorgehensweise bei ARFID erfolgt am besten in einem multidisziplinären Team. Die folgenden Schritte werden üblicherweise angewandt:
- Medizinische Ernährung: Zur Wiederherstellung des Gewichts, zur Behebung von Nährstoffmängeln und zur Unterstützung des Aufholwachstums/Mahlzeitenmanagements erfolgt der Einsatz von hochkalorischen, vollbilanzierten Trinknahrungen.
- Altersgerechte Psychoedukation für das Kind und die Familie.
- Identifizierung der von dem Kind akzeptierten/gefürchteten Lebensmittel und Erstellung einer Lebensmittelhierarchie.
- Langsames, spielerisches Heranführen an die Lebensmittel ohne Druck und Zwang. Pro neuem Lebensmittel sind oft vielzählige Expositionen erforderlich.
3 Top-Tipps für den Umgang mit ARFID von Frau Dr. Anna Maria Cavini
- Erleben von Lebensmitteln mit allen Sinnen: Stellen Sie sicher, dass das Kind auf spielerische Art und Weise sensorische Erfahrungen mit neuen Lebensmitteln machen kann. Lassen Sie es die Lebensmittel riechen, schmecken, berühren. Geben Sie sich Zeit, planen Sie mindestens einen Monat pro neuem Lebensmittel ein.
- Erweiterung der akzeptieren Lebensmittel: Um sicherzustellen, dass die Ernährung ausreichende Mengen an Nährstoffen enthält und um den Gewichtsverlust zu stoppen, ist es wichtig, die akzeptierten Lebensmittel anzureichern und zu erweitern.
- Reduktion von Druck und Stress: Durch den Einsatz von medizinischen Trinknahrungen und professioneller ärztlicher und therapeutischer Hilfe können Nährstofflücken geschlossen und der Druck und die Sorge in der familiären Essenssituation reduziert werden.
*** Gesetzlich für vollbilanzierte Trinknahrungen vorgeschrieben
- Attia E., Walsh T., 2022, Vermeidende/restriktive Essstörung (ARFID), MSD Manual Ausgabe für medizinische Fachkreise: URL: www.msdmanuals.com/de/profi/psychiatrische-erkrankungen/essstörungen/vermeidende-restriktive-essstörung-arfid; letzter Zugriff: 23.11.2024
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