Prof. Christoph Fusch: ESPGHAN-Leitlinien 2022 – ein Überblick, Fette und Fortifier

Die aktuelle Leitlinie ersetzt die Version von 2010 und behandelt neben den Hauptnährstoffen, Wasser, Mineralstoffe, Spurelemente und Vitamine sowie die Fütterungspraxis und Fütterungsart, Wachstum, Muttermilch und Anreicherung besondere Bestandteile der Muttermilch: Lactoferrin, Cholin, HMOs, BSSL, Lutein, Nukleotide sowie Osmolarität und hydrolysiertes Protein.

In der Leitlinie wird ein neuer Fokus daraufgelegt, dass die Energiezufuhr mit der Proteinzufuhr übereinstimmen muss. Ruheenergieumsatz, Energiegehalt in neu aufgebautem Gewebe sowie die Energiekosten für die Synthese von neuem Gewebe ergeben einen Bedarf von 115 – 140 kcal/kg/d, darüber hinaus sind bis zu 160 kcal/kg/d möglich.

Auf Basis der aktuellen Evidenz liegen die Empfehlungen für die Zufuhr von Protein bei 3,5 – 4,0 g/kg/d. Die Proteinzufuhr kann dennoch bis auf 4,5 g/kg/d und mehr erhöht werden, wenn das Wachstum bei geringerer Proteinversorgung und gleichzeitig ausreichender Energiezufuhr nicht adäquat ist. Die Proteinzufuhr bestimmt die Geschwindigkeit des Wachstums der Magermasse. Für die je Proteinzufuhr maximal erzielbare Wachstumsrate ist ein ausgewogenes Verhältnis von Protein zu Energie entscheidend. Bei einer hohen Proteinzufuhr und gleichzeitig geringer Energiezufuhr kommt es zu vermehrter Aminosäureoxidation, so dass wertvolle Baustoffe verloren gehen und nicht das volle Wachstumspotential zum Aufbau von Magermasse erreicht wird. Gleichzeitig entsteht vermehrt Harnstoff als Abbauprodukt, der dann aufwendig über die Niere ausgeschieden werden muss. Dagegen führt eine im Verhältnis zum Protein zu hohe Energiezufuhr in Form von Kohlenhydraten und Fetten zu einem exzessiven Aufbau von Körperfett. 

Muttermilch muss fortifiziert werden

Muttermilch weist eine hohe Variabilität an Protein und Fett auf. Die wechselnde Zusammensetzung kann sich auf das Wachstum des Kindes auswirken und führt bei unausgewogenem Verhältnis zwischen Protein und Energie zu suboptimaler Körperzusammensetzung mit zu geringer Mager- und/oder zu hoher Fettmasse. Eine individuell angepasste Fortifizierung unter Berücksichtigung der tatsächlichen, idealerweise gemessenen Zusammensetzung der jeweiligen Muttermilch, stellt wahrscheinlich die optimale Fortifizierungsmethode dar. Ein in Zusammenarbeit mit Nutricia und Prof. Fusch entstandener Algorithmus/ Flussdiagramm zur Vorgehensweise der individualisierten Energie- und Proteinsupplementierung nach den aktuellen Leitlinien der ESPGHAN 2022 stellt ein nützliches Tool für die klinische Praxis für die Targetfortifizierung dar.

Die Rolle von Fetten

Neben der Rolle von Protein für das Wachstum, spielen Fette eine Rolle als Energielieferanten, als Vorläufer von Biofaktoren und in Form von Strukturlipiden für die Zusammensetzung der Zellmembranen, insbesondere im Zentralnervensystem. Die Zufuhrempfehlungen der neuen ESPGHAN Leitlinie haben sich im Vergleich zur bisher gültigen Leitlinie erhöht. Insbesondere fallen die Empfehlungen für die langkettigen, mehrfach ungesättigten Fettsäuren Docosahexaensäure (DHA) und Arachidonsäure (ARA) deutlich höher aus. Die Gehalte dieser beiden Fettsäuren in Muttermilch sind für Frühgeborene deutlich zu gering, so dass über entsprechende Frauenmilchsupplemente eine ausreichende Menge dieser beiden Fettsäuren zugeführt werden sollten (siehe auch folgende Absätze).

Angemessenes Wachstum

Auch in den neuen Leitlinien ist basierend auf der aktuellen Evidenz die optimale Wachstumsgeschwindigkeit, die die langfristige Entwicklung von Frühgeborenen optimiert, nach wie vor unklar. Es herrscht Konsens, dass der Gewichtsverlust bis zum 3. – 4. Lebenstag weniger als 10% betragen und das Geburtsgewicht nach 7 -10 Tagen wieder erreicht werden sollte. Danach sollte ein allmählicher Übergang zum entsprechenden Geburtsperzentil auf der WHO-Tabelle für postnatales Wachstum vor oder nach 44 Wochen (Gestationsalter) erfolgen. Im Vortrag wurde auch das Konzept der individualisierten Wachstumstrajektorien vorgestellt, dass auf der postnatalen Gewichtsadaptation von einem ausgesuchten großen Kollektiv von Frühgeborenen mit möglichst unbehinderter postnataler Adaptation beruht (www.growthcalculator.org).

Geeignete Fortifier

Eine Anreicherung von Muttermilch wird von den meisten Frühgeborenen mit einem Gewicht < 1.500 g benötigt. Aufgrund der hohen Variabilität der Muttermilch besteht ein Risiko für postnatale Wachstumsretardierung bei mit Muttermilch gefütterten Frühgeborenen. Bei einer Standardfortifizierung besteht das Risiko einer nicht adäquaten Anreicherung, da dieses Konzept auf der Annahme von Mittelwerten für die Nährstoffgehalte der Muttermilch beruht. Diese weichen in individuellen Muttermilchen z.T. beträchtlich nach oben oder unten ab.
Spendermilch hat aufgrund des niedrigen Proteingehalts in der späten Laktation das höchste Risiko für eine postnatale Wachstumsretardierung. Eine individualisierte Anreicherung führt zu besserem Wachstum.

Die auf dem Markt befindlichen Fortifier unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung. So liefern nordamerikanische Fortifier hohe Fett- aber geringe Kohlenhydratmengen, während bisherige europäische Fortifier einen hohen Anteil an Kohlenhydraten und kein Fett enthielten. In den neueren, verbesserten europäischen Fortifiern ist nun ein Teil der Kohlenhydrate durch Fett ersetzt worden und liefern damit je zur Hälfte die Energie aus den beiden Hauptnährstoffen. Diese verbesserte Zusammensetzung führt zum einen zu einem adäquaten Wachstum, zum anderen auch zu einer verbesserten Versorgung mit kritisch notwendigen Fetten wie DHA und ARA.

In einer klinischen Studie mit 205 Frühgeborenen < 1.500 g und einem Gestationsalter von < 32 Wochen, konnte ein adäquates Wachstum (18,4 g/kg/d) sowie eine gute Verträglichkeit und Akzeptanz dieses neuen Fortifiers mit verbesserter Rezeptur gezeigt werden (Picaud JC, et al. 2022. ESPGHAN 54th Annual Meeting Abstracts. Pediatric Gastroenterology and Nutrition 74, S2: 930, N-O-017.)

Eine zweite Studie mit einem anderen Fortifier führte zu einem ähnlichen Wachstum (18,3 g/kg/d) (Rigo J, et al. 2017. JPGN 65; e83-e93.)

Prof. Berthold Koletzko: Protein-Zufuhr in der Klinik und danach

Internationale Experten haben eine globale Leitlinie für die klinische Praxis in der Neonatologie sowie nach Klinikentlassung erfasst: Nutritional Care of Preterm Infants. (Koletzko B, et al. 2021) 

Extrem kleine Frühgeborene haben keine nutzbaren Energiespeicher, sodass es ohne adäquate kontinuierliche Nährstoffzufuhr zu einem raschen Abbau an Körpereiweiß zum Zweck der Energieproduktion kommt. Für eine adäquate Gewichtsentwicklung sind eine initiale parenterale und eine frühe enterale Ernährung, sowie eine adäquate Ernährung nach Klinikentlassung von entscheidender Bedeutung. 

Auch das Hirnwachstum benötigt Energie und Baustoffe, denn das Gehirn nimmt von der 28. SSW bis zur 40. SSW etwa 260 g an Gewicht zu. So korrelieren Energie- und Proteinzufuhr in der 1. Lebenswoche mit dem Mental Developmental Index (MDI) im Alter von 18 Monaten (+ 4,6 MDI Punkte pro 10 kcal/kg&d und 8,2 MDI-Punkte pro 1 g Aminosäuren/kg&d). Das Hirnvolumen sowie die Hirnstruktur und -funktion korrelieren zudem mit der Magermasse, nicht aber mit der Körperfettmasse Frühgeborener. Protein- und Energiezufuhr sollten daher in der Menge so zugeführt werden, dass ein Wachstum analog der fetalen Gewichtszunahme in utero erreicht wird. Frühgeborene < 32 Wochen sollten ab Tag 1 i.v. Aminosäuren in einer Menge von 1,5 – 2,5 g/kg&d sowie eine Energiezufuhr > 65 kcal/kg&d erhalten. Die i.v. Aminosäurenzufuhr sollte erst bei einer enteralen Ernährung von ~ 75 ml/kg&d reduziert werden. Eine enteraler Ernährungsbeginn ab 6-48 Stunden nach Geburt wird empfohlen. Die enterale Nahrungsmenge kann dabei rasch gesteigert werden (+36 ml/kg&d in RCT evaluiert). Eine routinemäßige Evaluation von Magenresten ist nicht mehr indiziert, Gewicht, Länge und Kopfumfang sollten regelmäßig kontrolliert werden. Ein schriftliches Stationsprotokoll ist wichtig, alle Mitarbeiter sollen einbezogen, motiviert und regelmäßig geschult werden. 

Auch eine enteral höhere Proteinzufuhr > 3 g/kg&d bei Frühgeborenen < 1.500 g führt zu einer höheren Gewichtszunahme als eine Zufuhr < 3 g/kg&d und zu keinen nachteiligen Effekten incl. NEC, Sepsis und Durchfall (Fenton et al. Cochrane Database Syst Rev 2015).

Proteingehalt in Muttermilch – Einfluss auf Körperzusammensetzung und Entwicklung

Der Proteingehalt von Muttermilch ist sehr variabel, er fällt mit der Dauer der Laktation und ist für Frühgeborene zu niedrig. Der Proteingehalt von Spenderinnenmilch ist besonders niedrig, da sie meist in einer späteren Laktationsphase gewonnen wird und liegt häufig < 1 g/100 ml. Um den Proteinbedarf kleiner Frühgeborener zu decken, sind Frauenmilchsupplemente erforderlich. In Studien zeigt sich durch angereicherte Frauenmilch ein verbessertes Wachstum, durch eine erhöhte Zunahme von Gewicht, Körperlänge und Kopfumfang.

Im Alter von 1 und 2 Jahren zeigt sich eine bessere kognitive Entwicklung bei Frühgeborenen, die die Milch der eigenen Mutter oder Formula erhalten haben, im Vergleich zu Kindern, die Spenderinnenmilch bekamen. 

In Bezug auf die Körperzusammensetzung zeigt sich eine prozentual höhere Körperfettmasse bei Frühgeborenen im Vergleich zu Reifgeborenen. Frühgeborene sind zudem im späteren Lebensalter häufiger adipös als reifgeborene Kinder. Stärkster Prädiktor der Körpermagermasse ist die Protein zu Kohlenhydat-Ratio.

Ernährung nach Klinikentlassung 

Bei Klinikentlassung weisen Frühgeborene mit ~1.800g ungefähr 55% des Gewichts reifer Neugeborener auf. Ihre Nährstoffspeicher sind niedrig, Muttermilch und Säuglingsanfangsnahrungen decken ihren Bedarf nicht. Nach Klinikentlassung sind Frühgeborene häufig wachstumsretardiert (< 10. Perzentile). Eine hohe Dichte an Protein und essenziellen Nährstoffen und ein adäquates Verhältnis von Protein zu Energie sind wichtig, um qualitativ gutes Wachstum zu erreichen. Wachstumsvergleiche bei Frühgeborenen, die nach Klinikentlassung Frühgeborenennahrung oder spezielle Post-Discharge Nahrung bekommen haben, weisen im Vergleich zu Kindern, die mit eine Standardnahrung für Reifgeborene gefüttert wurden, eine größere Zunahme an Gewicht, Länge und Kopfumfang auf. Pro 100 kcal sollten ~3g bzw. 2-2,5g Protein bei ~1,5-2 kg bzw. ~2-2,5 kg gegeben werden. Das Stillen sollte gefördert und bei schlechtem Wachstum Frauenmilchsupplemente eingesetzt werden. Wenn nicht voll-gestillt wird sollten Post-discharge oder Frühgeborenennahrung gefüttert werden. Eine regelmäßige Kontrolle des Wachstums und der Nährstoffversorgung sind wichtig.